David Goodhart: Kopf, Hand, Herz (2021) 📙

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Teil 1: Das Problem

Die Vorherrschaft des Kopfes

  • “Die westliche Philosphie von Platon bis Descartes und das Christentum sehen im Geist den Ort der Wahrheit und im Körper den Ursprung aller Begierden und Unmoral. Arbeiten mit Körper und Emotionen, zum Beispiel die Erziehung der Jungen und die Pflege der Alten, genießen daher wenig Ansehen und sind zudem ĂŒberwiegend weibliche TĂ€tigkeiten. Viel zu oft setzen wir kongitive FĂ€higkeiten und Leistungen mit dem Wert eines Menschen an sich gleich. Das schleicht sich auch in unserer alltĂ€glichen Beurteilung ein.” (S. 31)
  • “Kognitive und analytische FĂ€higkeiten und Erfolg in der Wissensökonomie hĂ€ngen eng mit den freiheitlichen Werten der Autonomie, MobilitĂ€t und ModernitĂ€t zusammen — dem Gegenteil der ProvinziallitĂ€t. […] Diese Denkgewohnheiten herrschen in der kognitiven Klasse vor, weshalb es Studierenden oft schwer fĂ€llt, konservativ denkende Menschen zu verstehen.” (S. 31)

Die Frauenbewegung

  • “Der Frauenbewegung geht es heute in erster Linie darum, die glĂ€serne Decke zu durchbrechen und auf dem Arbeitsmarkt mit MĂ€nnern zu konkurrieren. Weniger setzt sie sich dagegen fĂŒr die Aufwertung von traditionellen Frauenberufen im sozialen Sektor ein. Frauen haben heue weit mehr Berufschancen als in den FĂŒnfziger- und Sechzigerjahren, weshalb sich immer weniger fĂŒr diese Bereiche entscheiden. Aber nur wenige MĂ€nner springen in die neue LĂŒcke. Die Folge ist ein ArbeitskrĂ€ftemangel im gesamten sozialen Sektor.” (S. 35)

Mobile vs. Verortete

  • “Im politischen Ziel der MobilitĂ€t kommt oft auch eine Art Selbstverliebtheit der kongitiven Klasse zum Ausdruck: “Auch ihr könnt so werden wie wir.” Dahinter steckt hĂ€ufig die Überzeugung, dass jeder andere Lebensentwurf weniger wert ist.” (S. 39)
  • “Gleichzeitig ignoriert die politische Klasse einige der politischen GrundbedĂŒrfnisse der Verorteten: den Wunsch nach stabilen Gemeinschaften und dicheren Landesgrenzen; den Vorzug von BĂŒrgerrechten gegenĂŒber Menschenrechten; und die Weiterentwicklung, aber nicht die Abschaffung der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau.” (S. 39)
  • “Weil hochqualifizierte Mobile oft besser kommunizeren und mit Informationen umgehen, reden sie sich gern ein, dass ihre Werte vernĂŒnftig und selbstverstĂ€ndlich sind. Dabei stellen Sie jedoch nur ihre eigenen PrioritĂ€ten oben an und unterfĂŒttern sie nachtrĂ€glich mit Beweisen — das bezeichnet man als motivierte Argumentation.” (S. 40)

Der Zweck der Arbeit

  • “Bis vor Kurzem bestand fĂŒr die meisten Menschen der Zweck der Arbeit darin, die Familie zu ernĂ€hren. Doch seit Ende des 20. Jahrhunderts wird gerade höherqualifizierte Arbeit immer mehr mit Selbstwert und Selbstverwirklichung in Zusammenhang gebracht â€” die Arbeit ist zum Selbstzweck geworden.” (S. 52)
  • “Man kann im RĂŒckblick nur schwer sagen, wie zufrieden oder unzufrieden Menschen frĂŒherer Generatoneon gewesen sein mögen. Es ist jedoch gut denkbar, dass die Industriegesellschaft, vor allem die demokratische und soziale Marktwirtschaft der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts, Status und Anerkennung besser verteilt hat als die nach kognitiven Leistungen geschichtete postindustrielle Gesellschaft. Wir sind heute zwar reicher und freier als damals, doch gleichzeitig sind wir weniger verwurzelt und neiderfĂŒllter.” (S. 53)

Wenn sich jemand fĂŒr unsere Ansichten interessiert

  • “Die magische Zutat meiner geistigen Entwicklung war jedoch das Selbstvertrauen — das, was Carol Dweck als “dynamisches Selbstbild” bezeichnet. Die Überzeugung, dass meine Ansichten einen Wert haben (eine Überzeugung, die vielen Menschen abgeht), war eine Art Zaubertrank, der dafĂŒr sorgte, dass mir immer mehr davon in dne Kopf kamen. Wir blĂŒhen auf, wenn wir das GefĂŒhl haben, dass sich jemand fĂŒr unsere Ansichten interessiert […].” (S. 80f)

Intelligenz ist nicht alles

  • “Denn so attraktiv Intelligenz ist, sie ist nicht die einzige wĂŒnschenswerte menschliche Eigenschaft. Intelligenz macht noch nicht liebenswert, ehrlich, sorgfĂ€ltig, mitfĂŒhlend, mutig oder zufrieden. Trotzdem unternehmen immer mehr Menschen alles, damit ihre Kinder eine höhere Schule besuchen und studieren, selbst wenn sie weder die kognitive Kompetenz noch die Persönlichkeit dazu mitbringen. Das Ergebnis ist eine Epidemie der Fehlanpassungen. Wenn wir anderen menschlichen FĂ€higkeiten denselben Stellenwert beimessen wĂŒrden wie der Intelligenz, könnten wir fĂŒr jeden Menschen je nach kognitiver und psychischer Voraussetzung die richtige Aufgabe finden und jeden Menschen so annehmen, wie er oder sie ist.” (S. 109)

Kapitalistische Wirtschaft vs kapitalistische Gesellschaft

  • “Dieser Unterschied ist genauso groß wie der zwischen einer kapitalitischen Wirtschaft und einer kapitalistischen Gesellschaft (um es mit dem französischen Sozialisten Lionel Jospin zu sagen).”
  • Das ist ein interessanter Gedanke, ĂŒber den ich gerne mehr erfahren wĂŒrde.

Teil 2: Die kognitive Übernahme

Das kognitive Umfeld der UniversitÀt

  • “Der Wechsel vom kognitiven Umfeld der Schule ins kognitive Umfeld der UniversitĂ€t ist zudem einfacherals der in das nicht-kognitive Umfeld der Arbeit, wie der britische Ökonom Paul Collier gezeigt hat.” (S. 121)

Bildung als Antwort auf alles

  • “Je mehr Politiker selbst studiert hatten, umso mehr sahen sie im Ausbau der Bildung eine Antwort auf alles, angefangen von der ProduktivitĂ€tssteigerung der Wirtschaft bis zur gesellschaftlichen MobilitĂ€t.” (S. 126)
  • “[Der Aufbruch ins Zeitalter der Massenhochschule] wurde als “alternativlos” verkauft, und niemand schien allzu viele Gedanken an die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Konsequenzen zu verschwenden.” (S. 126)

Nichts gelernt an der Uni

  • “Untersuchungen belegen, dass zahlreiche Studenten so gut wie nichts von der UniversitĂ€t mitnehmen. So zeigen zum Beispiel Richard Arum und Josipa Roksa mithilfe von Umfragen und PrĂŒfungsauswertungen, dass ein erheblicher Anteil von amerikanischen Studenten auf einer ganzen Reihe von Gebieten nichts dazulernt — sie können nach dem Studium weder kritischer denken, noch komplexer argumentieren oder besser schreiben.” (S. 146)

Linke Brahmanen

  • “An UniversitĂ€ten wimmelt es vor wohlmeinenden Menschen. Ihre Aufgabe besteht unter anderem darin, die bestehenden VerhĂ€ltnisse zu kritisieren, und in den letzen Jahren werden vor allem die Gesellschafts- und Geisteswissenschaften von einer Gruppe beherrscht, die Thomas Picketty scherzhaft “linke Brahmanen” nennt.” (S. 153)

Sich verstĂ€ndlich ausdrĂŒcken

  • “Das zeigte mir, wie sehr man daran arbeiten muss, sich verstĂ€ndlich auszudrĂŒcken, und wie wenig Bildung und Intelligenz allein ausreichen.” (S. 201)
  • “Trotz aller BemĂŒhungen um VerstĂ€ndlichkeit kommunizeren die kognitiven Eliten gern in Fachchinesisch, Managementjargon und beschönigenden Floskeln, um sich gegen die Nicht-Experten abzugrenzen und ihnen die Beteiligung zu erschweren. Fachsprache und bĂŒrokratische Vernebelung sind eine Form der Expertenmacht.” (S. 205)

Die Sprache der Bibel

  • “Eine der SchĂ€tze der modernen Sprache ist fĂŒr [Kinderbuchautor David Lucas] die Bibel mit ihren lebendigen Bildern: “Die biblischen Redewendungen sind uns derart vertraut, dass wir ihre Schönheit gar nicht mehr bemerken”, sagt Lucas. “Es ist nicht leicht, Dinge einfach auf den Punkt zu bringen, und noch schwieriger ist es, sie elegant zu sagen.” “ (S. 208f)

Wie, was, warum

  • Folgend dem Designer Richard Guyatt: “In der Kunst und Gestaltung bestimme der Kopf das “Wie” (Funktion oder Nutzen); die Hand beschreibe das “Was” (rĂ€umliche Verkörperung) und das Herz das “Warum” (Wert und Bedeutung). Heute werden Kunst und Architektur jedoch weitgehend vom Kopf beherrrscht.” (S. 210)
  • “Als im 20. Jahrhundert die Moderne an Fahrt aufnahm, rĂŒckte das “Wie” in den Vordergrund, sprich die Funktion.” (S. 210)
  • Das gilt auch fĂŒr das UnternehmensgrĂŒndungsprogramm. Es ist sehr technokratisch.

Das Gleichgewicht von Kopf, Hand und Herz

  • “Das erinnert uns an das Gleichgewicht von Kopf, Hand und Herz. In allen KĂŒnsten ensteht Schönheit aus einem Tauziehen starker KrĂ€fte. Auch ErzĂ€hlungen funktionieren nach diesem Muster: Eine gute Geschichte verwebt gegensĂ€tliche Motive, eine interessante Figur ist voller WidersprĂŒche. Jede ErzĂ€hlung lebt vom Konflikt: Eine Figur ist hin und her gerissen zwischen WĂŒnschen und ZwĂ€ngen, zwischen Herz und Kopf.” (S. 210f)
  • Ein gutes Unternehmenskonzept, der Unternehmertraum
 Auch darin herrscht ein Tauziehen und im besten Fall ein Gleichgewicht von Kopf, Hand und Herz.
  • Und auch fĂŒr ein Lifestyle Business generell ist das Gleichgewicht von Kopf, Hand und Herz ein erstrebenswertes Ziel.
  • David Lucas: “Der Gedanke, dass Schönheit eine Vereinigung von GegensĂ€tzen ist, geht auf Heraklit zurĂŒck. […] FĂŒr mich ist es eine universelle Wahrheit: Ist auf dieselbe Weise schön wie das gute Leben oder die Persönlichkeit des Menschen. Ein ausgewogener Mensch ist eine Vereinigung von GegensĂ€tzen. Genau wie ein erfolgreiches Leben. Und schöne Gestaltung. Wenn das jahrtausendelang so war, warum sollte es seit Anfang des 20. Jahrhunderts plötzlich nicht mehr stimmen?” (S. 213)
    • vgl. Wir leben in Spannungsfeldern. Schönheit ist, wenn Gleichgewicht und Harmonie in Spannungsfeldern gelingt.

Politik: Kopf < Herz

  • “In der Politik ist das Herz nun einmal stĂ€rker als der Kopf.” (S. 213)
  • Deswegen werden in der Politik die besseren Argumente (allein) nie gewinnen. Es braucht auch Emotionen und Geschichten.

Teil 3: Hand und Herz

MĂ€nner auf dem Sterbebett

  • “Oft erkennen wir viel zu spĂ€t, was uns wirlich etwas bedeutet. Auf dem Sterbebett wĂŒnscht sich wohl kaum jemand, mehr Stunden im BĂŒro gesessen oder eine bessere Position erreicht zu haben. Sozialpsychologen haben das sogar in Befragungen ermittelt: Wenn der Tod naht, dann bereuen wir Dinge, die mit Zugehörigkeit, Liebe und Familie zusammenhĂ€ngen, aber nicht mit Leistungen im Beruf oder der Öffentlichkeit. Eine befreundete Leiterin einer Sterbeklinik sagte mir, sie erlebe es immer wieder, wie MĂ€nner ihre Frauen und Kinder um Vergebung bitten, weil sie ihnen nicht mehr Liebe und Zuneigung geschenkt haben.” (S. 282)

Teil 4: Die Zukunft

“Die gebildeten StĂ€dter, die gegen den Populismus gestimmt haben, werden die Dinge ganz anders sehen, wenn sie selbst von Globalisierung und Rationalisierung betroffen sind.” (Richard Baldwin, S. 285)

Die sicheren Sektoren der Zukunft

  • “Die sicheren Sektoren der Zukunft sind diejenigen, in denen Menschen zusammenkommen und Dinge tun mĂŒssen, bei denen Menschlichkeit gefragt ist. Daher werden FĂŒrsorge, Miteinander, VerstĂ€ndnis, KreativitĂ€t, MitgefĂŒhl, Innovation und MenschenfĂŒhrung in unserer Arbeit einen viel grĂ¶ĂŸeren Raum einnehmen.” (Richard Baldwin, S. 291)
  • Gegenposition: “Wir wollen die Bedeutung des zwischenmenschlichen Kontakts keineswegs in Abrede stellen. Im Gegenteil, unserer Ansicht nach spielt “das MitfĂŒhlende” eine wichtige Rolle in der Zukunft. Doch unserer Erfahrung nach wĂŒnschen Kunden in erster Linie Lösungen und erst in zweiter einen vertrauten Ratgeber.” (Richard und David Susskind, S. 295)

Kopf und Herz

  • “Und auch Herz und Kopf sind nicht voneinander zu trennen. Wie wir in Kapitel 8 gesehen haben, erfordern soziale TĂ€tigkeiten ein großes Maß an Intellekt. Die Überbetonung des Kopfs auf Kosten des Herzens ist eine der großen SchwĂ€chen der modernen liberalen Gesellschaften.” (S. 310f)

Lernkonto

  • “Hier könnte man den alten Gedanken des Lernkontos wiederbeleben, einer festen Summe, die der Staat jedem BĂŒrger zur VerfĂŒgung stellt und auf die wir im Laufe unseres Lebens immer wieder zugreifen können.” (S. 336)

Die RĂŒckkehr zur Religion

  • “In einem Aufsatz ĂŒber die Welt seiner Enkelkinder hat John Maynard Keynes vorhergesehen, dass die Menschheit nach dem Sieg ĂŒber die Notwendigkeit zur Religion zurĂŒckkehren wird.” (S. 338)

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