Jesper Juul: Das kompetente Kind (2003) 📙

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Meine Notizen

Der grundlegende Konflikt: Kooperation vs. IntegritÀt

“Bereits die Ă€ltesten Schriftzeugnisse zeigen, dass die Menschen sich ihres fundamentalen existenziellen Dilemmasbewusst waren: des Konflikts zwischen Individuum und Gruppe, Individuum und Gesellschaft, Individuum und KonformitĂ€t, IdentitĂ€t und Anpassung — oder, wie ich es nennen möchte: des Konflikts zwischen IntegritĂ€t und Kooperation.” (S. 43)

INTEGRITÄT (Selbst, IdentitĂ€t, Ich
) ← KONFLIKT → KOOPERATION (kopieren/nachahmen)

“Es ist faktisch so, dass Kinder, wenn sie in den Konflikt zwischen IntegritĂ€t und Kooperation geraten — und das tun sie, genau wie die Erwachsenen, Dutzende von Male jeden Tag —, in neun von zehn FĂ€llen die Zusammenarbeit wĂ€hlen. Kinder brauchen keine Erwachsenen, die sie lehren, wie man sich anpasst oder wie man zusammenarbeitet. Hingegen haben sie dringenden Bedarf an solchen Erwachsenen, die sie lehren, wie man in der Interaktion mit anderen fĂŒr sich selber sorgt.” (S. 44f)

Kooperation — direkt und spiegelverkehrt

“Schematisch betrachtet ist die Frage nach direkter und spiegelverkehrter Nachahmung/Kooperation sehr einfach:

  • Kinder, die kritisiert werden, werden entweder kritisch oder selbstkritisch.
  • Kinder, die mit Gewalt aufgezogen werden, werden entweder gewalttĂ€tig oder selbstzerstörerisch.
  • Kinder, die in Familien aufwachsen, wo sich niemand persönlich ausdrĂŒckt, werden entweder schweigsam oder redselig.
  • Kinder, die gewalttĂ€tigen oder sexuellen KrĂ€nkungen ausgesetzt sind, werden entweder exzessiv und autodestruktiv oder exzessiv und verletzend.” (S. 54)

“Wir alle sind ohne Schuld zu unserem destruktiven/autodestruktiven Verhalten gekommen.” (S. 54)

“Gar nicht so selten kooperieren zum Beispiel zwei Kinder in derselben Familie direkt und spiegelverkehrt. DarĂŒber wundern sich oft sowohl Eltern wie Fachleute, denn die Kinder haben ja die gleichen Lebensbedingungen, sie werden auf die gleiche Weise erzogen!” (S. 51)

Verletzung der IntegritÀt von Kindern

“Kindern zu erzĂ€hlen, wie “verkehrt” sie sind, bedeutet ganz eindeutig eine KrĂ€nkung ihrer IntegritĂ€t. Kinder haben das immer klar und deutlich mit nonverbaler Botschaft den Erwachsenen zu sagen versucht: Die Augen sind voll TrĂ€nen und / oder einem schmerzerfĂŒllten Ausdruck, sie schauen den Erwachsenen kurz an, und wenn die Botschaft nicht erfasst wurde, versteift sich ihr Körper, sie schauen zur Erde und senken den Kopf. Eine klare Botschaft, der nur die Worte fehlen: “Du verletzt mich!”, um ganz und gar unzweideutig zu sein.” (S. 58)

Kinder geben Eltern RĂŒckmeldung ĂŒber deren Probleme

“Kinder geben den Eltern verbale und nonverbale RĂŒckmeldungen, die gleichzeitig kompetente Hinweise auf emotionale und existenzielle Probleme der Eltern sind. Kurz gesagt: Kinder sind am wertvollsten fĂŒr das Leben ihrer Eltern, wenn die sie am beschwerlichsten finden.” (S. 63)

  • Daher kommt auch die Idee, dass Kinder ein Spiegel fĂŒr ihre Eltern sind.
  • Kinder sind nur die Botschafter, nicht das Problem!

Wir Eltern blamieren uns

“Aber kein Erwachsener ist perfekt, und alle Kinder sind unterschiedlich. Deshalb machen wir “Fehler”. Unschuldig, liebevoll und mit den besten Absichten blamieren wir uns — und das ist in Ordnung! Darum dĂŒrfen die Erwachsenen die Verantwortung fĂŒr ihre IrrtĂŒmer ĂŒbernehmen, anstatt sie, wie ĂŒblich, den Kindern anzulasten.” (S. 80)

“Die Idee, dass es ĂŒberhaupt möglich ist, “das Richtige” zu tun, mĂŒssen wir aufgeben. Wir mĂŒssen deshalb im Umgang mit Kindern eine Ethik entwickeln, die uns Augen und Ohren offenhĂ€lt fĂŒr die Schnitzer, die wir unausweichlich begehen, und wir mĂŒssen fĂŒr sie die Verantwortung ĂŒbernehmen. Nur eine solche Praxis wird die Kinder sich frei und gesund und stabil entwickeln lassen. Geholfen wird uns dabei jederzeit durch die kompetenten RĂŒckmeldungen der Kinder, die uns daran erinnern, wo wir selbst steckenbleiben.” (S. 205f)

Wenn Kinder schlicht und einfach nicht hören

“Wenn Kinder “schlicht und einfach nicht hören, egal was wir ihnen sagen”, ist das in der Regel darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass das, was die Eltern sagen, nicht wert ist, darauf zu hören! Das bedeutet nicht, dass die Sache an sich nicht wahr oder vernĂŒnftig, angemessen, gerechtfertigt oder genial wĂ€re. Das bedeutet vielleicht, dass die Weise, wie es gesagt wird, die Bewertung, die hinter dem steht, was gesagt wird, der Zusammenhang, in dem etwas gesagt wird, oder irgendetwas Viertes verkorkst ist.” (S. 82)

  • Wir kennen das auch in der Beratung. Kund*innen, die “nicht auf uns hören”, die “nicht coach-able” sind. Vielleicht liegt das aber genau an den hier genannten GrĂŒnden, warum auch Kinder nicht auf ihre Eltern hören.

Schmerz ist Teil des Daseins

“Ungeachtet dessen, wie sehr wir uns anstrengen, um fĂŒr unsere Kinder alles gut zu machen, ist das Leben nicht immer leicht — auch nicht fĂŒr Kinder. Wir können unsere Kinder lieben und ihnen, so gut wir vermögen, beibringen, dem Leben zu begegnen. Aber wir können sie nicht vor dem Dasein beschĂŒtzen. Schmerz ist Teil eines jeden Menschenlebens, und das gilt auch fĂŒr die Schmerzen, die auf ungelöste Konflikte zwischen IntegritĂ€t und Kooperation folgen.” (S. 85)

Ein gegenseitiger Lernprozess

“Die Interaktion zwischen Erwachsenen und Kindern ist ein gegenseitiger Lernprozess, wobei der Grad der gleichen WĂŒrde direkt proportional zu dem Gewinn beider Partner ist.” (S. 94)

Erwachsen werden

“In unserer Kultur hĂ€ngt man dem Wahn an, wir wĂŒrden erwachsen, wenn wir achtzehn werden oder einundzwanzig — oder allerspĂ€testens, wenn wir selber Kinder bekommen. Wie die meisten wissen, stimmt das nicht. Viele von uns haben es nicht geschafft, erwachsen zu werden, wenn sie sterben. Das heißt nicht, wir verhalten uns immer kindisch, sondern nur, dass wir uns hĂ€ufig unreif benehmen, besonders in der Beziehung zu unseren NĂ€chsten.” (S. 134)

Einen anderen Menschen ernst nehmen

“Einen anderen Menschen ernst nehmen umgreift verschiedene QualitĂ€ten:

  • das Recht des anderen anzuerkennen, das BedĂŒrfnis, die Lust, das Erleben, die GefĂŒhle und den Ausdruck zu haben, den er oder sie jetzt hat;
  • das BedĂŒrfnis des anderen aus seiner Sicht, so wie er ist und denkt, sehen zu können;
  • sich auf seinen Ausdruck zu konzentrieren mit dem Ziel, seine Wirklichkeit kennenzulernen, und nicht, um Beweise gegen ihn und seine WĂŒnsche zu sammeln;
  • auf das, was von ihm kommt, mit VerstĂ€ndnis zu antworten und damit seine eigene Position erst zu nehmen.” (S. 151f)
    • Das ist eine wichtige ErgĂ€nzung fĂŒr einen Berater. Ernst nehmen heißt nicht, zu allem ja und Amen zu sagen. Dazu gehört auch, seine eigene Position ernst zu nehmen.

“Diese Erfahrung, ernst genommen zu werden, ist, wie gesagt, keine konkrete Erfahrung, sondern ein “musikalisches” Erlebnis, und deshalb fĂ€llt es Kindern schwer, sich zu erklĂ€ren, was in ihrer Familie fehlt.” (S. 157)

  • Ernst genommen zu werden, kann man nicht leicht definieren. Aber man kann es sofort spĂŒren.

Worauf die Kinder Lust haben

“Kinder wissen zwar, wozu sie Lust haben, aber oft nicht, was sie benötigen. Wenn die Lust der Kinder zur wichtigsten Richtschnur der Eltern wird, bekommen Kinder ganz einfach nicht, was sie benötigen.” (S. 170)

Mitverantwortung und Mitschuld

“[…] wir [sind] alle mitverantwortlich fĂŒr die Entwicklung und das Schicksal unserer Kinder. Diese Mitverantwortung bringt selbstverstĂ€ndlich auch Mitschuld mit sich.” (S. 202)

Interaktion

Interaktion hat Inhalt (WAS) und Prozess (WIE).

“Traditionell haben wir gelernt zu glauben der Inhalt sei das wichtigste. Das ist er nicht. Wenn zwischen Inhalt und Prozess Übereinstimmung herrscht, verschmelzen beide und sind gleich wichtigaber wenn das nicht so ist, ist der Prozess das wichtigste.” (S. 203)

“In einer Liebesbeziehung zwischen gleichgestellten Erwachsenen sind beide gleichermaßen verantwortlich fĂŒr die QualitĂ€t ihres Zusammenwirkens, wohingegen die Erwachsenen fĂŒr die QualitĂ€t der Interaktion mit den Kinder die ganze Verantwortung tragen.” (S. 204)

HausĂŒbungen

“Aber worin besteht hier das Dilemma der Eltern? Unter anderem darin, dass alle Lehrer dieser Welt sich zusammengerottet und entschieden haben, dass Schularbeiten [= HausĂŒbungen] in der Verantwortung der Eltern liegen. Das ist nicht nur unlogisch, sondern auch unzweckmĂ€ĂŸig und bringt Eltern wie Kinder in eine unmögliche Lage.” (S. 214)

“Schularbeiten [= HausĂŒbungen] sind Sache von SchĂŒler und Lehrer, das versteht sich von selbst, und den Eltern steht es frei, sich fĂŒr das zu interessieren, was die Kinder zu Hause tun, und ihnen beim Fachlichen so weit zu helfen, wie es nötig ist.” (S. 214)

  • vgl. Aufgabentrennung von Alfred Adler.
  • “die Verantwortung dahin zurĂŒckgeben, wo sie hingehört” (S. 214)
  • Gilt auch umgekehrt: Die Lehrer sind nicht fĂŒr die Aufgaben zustĂ€ndig, die eigentlich Aufgaben der Eltern wĂ€ren. Nur sind sich Lehrer und Eltern sehr oft nicht einig, was eigentlich wessen Aufgabe ist und was nicht.

“Beim jetzigen Stand der Dinge werden die Eltern darauf reduziert, der verlĂ€ngerte Arm der Lehrer zu sein.” (S. 214)

Mut zum Besserwissen

“Bis ungefĂ€hr hin zur PubertĂ€t brauchen die Kinder tatsĂ€chlich Eltern, die Mut zum Besserwissen haben und die aus dem grĂ¶ĂŸeren Wissen, der grĂ¶ĂŸeren Einsicht und Erfahrung heraus handeln. Als Sparringspartner, Beschlussfasser und MachtausĂŒber.” (S. 215f)

PubertÀt

“Die PubertĂ€t ist fĂŒr das Kind die zweite Gelegenheit, es selbst zu werden und sich selbst kennenzulernen (die erste ist, wie oben beschrieben, das Alter, in dem sie selbstĂ€ndig werden).” (S. 239)

“Der Mythos, die kindliche PubertĂ€t an sich sei die Ursache fĂŒr Konflikte mit den Eltern, ist eben ein Mythos, ein MĂ€rchen. Den Konflikten liegen mehr die fehlende FĂ€higkeit und der mangelnde Wille der Eltern zugrunde, ihrem Kind als dem einzigartigen und selbstĂ€ndigen Menschen zu begegnen, das es zu werden beginnt.” (S. 239)

“Wenn Kinder vierzehn oder fĂŒnfzehn Jahre alt geworden sind, mĂŒssen sie sich notwendigerweise von den Eltern abgrenzen und aus der Beziehung befreien. Sonst können sie sich nicht zu selbstĂ€ndigen, sozialen, verantwortlichen und kritischen Erwachsenen entwickeln. Das ist nichts, was sie gegen uns tun, sondern sie tun das fĂŒr sich selbst, und es geschieht als natĂŒrliche Fortsetzung dessen, was wir fĂŒr sie getan haben.” (S. 241)

Die gleichwĂŒrdige FĂŒhrung

“Stets hatten MĂ€nner und VĂ€ter wichtige Funktionen in der Familie und im VerhĂ€ltnis zur Familie, aber nur ausnahmsweise sind sie Teil der rhythmischen, kontinuierlichen Gemeinschaft von Mutter und Kind gewesen.” (S. 271)

“Die gleichwĂŒrdige FĂŒhrung ist dadurch charakterisiert, dass beide Elternteile alle in der Familie notwendigen Rollen beherrschen und sie willens sind, einander zu ergĂ€nzen und in den Funktionen ĂŒberlappend zu agieren, wenn es nötig sein sollte. Auch wenn sich bei einzelnen Elternpaaren mit der Zeit eine gewisse Arbeitsteilung, den Interessen und Talenten entsprechend, einstellen wird, so ist das doch keine Frage einer nach Funktionen aufgeteilten FĂŒhrung […].” (S. 271)

“Weiterhin basiert die gleichwertige FĂŒhrung darauf, dass beide Erwachsene gleichermaßen beschlussfĂ€hig sind und die BeschlĂŒsse entweder gemeinsam getroffen oder dem ĂŒberlassen werden, der am kompetentesten ist.” (S. 272)

“Die FĂŒhrung der Eltern in bezug auf ihre Kinder geht von dem Grundgedanken aus, dass sowohl Eltern als auch Kinder unterschiedliche Grenzen und unterschiedliche BedĂŒrfnisse haben. Sie beruht nicht auf der Einigkeit der Eltern ĂŒber Grenzen und Regeln, sondern auf dem Prinzip, dass jede und jeder einzelne das Recht hat, so ernst genommen zu werden, wie er oder sie nun mal ist.” (S. 272)

“Es gibt keinerlei Vorbilder, denen wir folgen könnten, darin liegt eine Schwierigkeit beim Aufbau gleichwĂŒrdiger FĂŒhrung in Familien.” (S. 272)

Kinder sind keine Erzieher

“Kinder versuchen nicht, uns irgend etwas beizubringen, und sie folgen keiner pĂ€dagogischen Theorie. Sie leben einfach mit uns zusammen und lassen uns wissen, welche Erfahrungen sie machen.” (S. 278f)


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