Juliane Marie Schreiber: Ich möchte lieber nicht. Eine Rebellion gegen den Terror des Positiven (2022) 📙

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Meine Notizen

Der Terror des Positiven

  • “Doch positives Denken geht nicht nur allen auf den Wecker, es fĂŒhrt auch dazu, dass wir egoistisch werden und glauben, jeder haben sein Schicksal selbst verdient. â€œEigenverantwortung” ist ein Kampfbegriff, um die wachsende soziale Ungleichheit den Einzelnen in die Schuhe zu schieben. Der Terror des Positiven ist somit auch politisch, denn er stabilisiert den Status Quo.” (S. 10)
  • “Nein, wir können nicht alles sein, wenn wir nur fest genug daran glauben. Und nein, nicht jeder ist seines GlĂŒckes Schmied. Es gibt viele Ungerechtigkeiten und Tragödien, fĂŒr die der Einzelne nicht verantwortlich ist. Nur wer das erkennt, kann ĂŒberhaupt die gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse Ă€ndern.” (S. 9)

Emotionaler Kapitalismus

  • Ein Konzept von Eva Illouz in ihrem Buch Der Konsum der Romantik.
  • “WĂ€hrend die Wirtschaft immer mehr unsere intimen Emotionen anspricht, richten wir umgekehrt unser GefĂŒhlsleben auch immer mehr an marktkonformer Wirtschaftlichkeit aus.” (S. 14)
  • Beispiel fĂŒr ersteres: Duschgels werden heute ĂŒber das LebensgefĂŒhl verkauft (”Sei frei, verrĂŒckt und glĂŒcklich!”) und lĂ€ngst nicht mehr ĂŒber die Inhaltsstoffe. (S. 11f)
  • Beispiel fĂŒr zweiteres: “Manche Leute gehen sogar so weit, dass sie fĂŒr sich selbst einen eigenen Markenkern erschaffen, also ganz buchstĂ€blich ihre Haut zu Markte tragen und ihre “Unique Selling Points” erarbeiten. Das nennt man dann “Personal Branding.” “ (S. 15)

Denk positiv und sei still

  • GlĂŒcksterror: “Wenn GlĂŒck und Leid zu einer Frage der inneren Einstellung gemacht werden, vermittelt es den Anschein, es gebe hauptsĂ€chlich psychologische Probleme und keine gesellschaftlichen. Und wenn ich mich einfach nur dazu entscheiden muss, glĂŒcklich zu sein, ist es leicht, einem unglĂŒcklichen Menschen zu unterstellen, er habe sein UnglĂŒck eben selbst gewĂ€hlt und sei dafĂŒr auch selbst verantwortlich. Auf diese Weise nimmt man einigen Menschen ganz gezielt ihre Stimme des Unmuts und Widerstands und bringt sie zum Schweigen.” (S. 31)
  • Eva Illouz: “Wenn die Gestressten, Deprimierten, Ausgegrenzten, Ausgebeuteten, Armen, Bankrotten, SĂŒchtigen, Trauernden, Kranken, Einsamen, Arbeitslosen, Nostalgischen und Gescheiterten kein glĂŒckliches Leben fĂŒhren, dann, weil sie sich nicht ernsthaft darum bemĂŒht haben.” (S. 31)

Stichwort: Manifestieren

  • “Klar, wenn ich meine Aufmerksamkeit auf ein Ziel lenke und all meine Energie auf ein Projekt verwende, werde ich damit natĂŒrlich besser vorankommen, als wenn ich nicht einmal weiß, was mien Ziel ist. Aber zu glauben, man werde schwanger oder plötzlich im Lotto gewinnen, wenn man es sich nur vom Universum wĂŒnsche, ist so unendlich bescheuert, dass man gar nicht weiter dazu sagen muss.” (S. 40)

GlĂŒck als Prestige

  • “Doch je grĂ¶ĂŸer der materielle Wohlstand in den Gesellschaften ist, desto weniger kann Geld als Abgrenzung gegenĂŒber anderen dienen. Eine neue WĂ€hrung muss her, die in einem endlichen Leben noch seltener, begrenzter und daher kostbarer ist: das persönliche GlĂŒck. Und so wird die Darstellung des GlĂŒcks heute zum Indikator fĂŒr ein erfolgreiches Leben.” (S. 41)
  • Das ist auch eine Sichtweise auf die Frage: Was ist ein Lifestyle Business?

Die GlĂŒcksformel

  • “Der BegrĂŒnder der Positiven Psychologie, Martin Seligman, hat seit 1998 eine sehr gute Zeit. Höchstpersönlich baute er an seiner Uni in Pennsylvania im Jahr 2001 das Positive Psychology Center aus. Gefördert wurde es mit Forschungsmillionen, vor allem von konservativen Stiftungen. Hier traf Motivationspsychologie auf neoliberales Weltbild, und es war ein match made in heaven (oder hell, wie man es nimmt).” (S. 51)

Baby, der Markt regelt

  • “Die ErzĂ€hlung von der Leistungsgesellschaft gehört zum neoliberalen Wirtschaftssystem wie die Faust ins Gesicht. Die Legende, nach der jeder das bekommt, was er aus eigenen StĂŒcken verdient, ist so praktisch, man kann sagen: Sie ist einfach ideal. WĂ€hrend immer mehr Verantwortung auf das Individuum verlagert wird, kann sich der Sozialstaat, das scheue Reh, immer ein StĂŒckchen weiter aus der Verantwortung zurĂŒckziehen.” (S. 55)
  • “Als kurze Klarstellung: NatĂŒrlich soll es hier nicht darum gehen, dass niemand sich verbessern darf oder dass individuelle Anstrengung nicht auch belohnt werden soll, das ist klar. Die gerösteten Datteln flattern niemandem einfach so in den Mund. NatĂŒrlich sind wir auch selbst fĂŒr unser Leben verantwortlich. Und sicher, wer sich anstrengt, wird gegenĂŒber seinem trĂ€gen eineiigen Zwilling innerhalb seines Möglichkeitskorridors auch erfolgreicher sein. Aber es ist Augenauswischerei, von gleichen Ausgangsbedingungen auszugehen. Privilegierte Menschen haben von vornherein einen viel weiteren Korridor an Möglichkeiten — man könnte auch sagen, eine ganze Flughafenhalle. Nur weil jeder, der “es geschafft hat”, sich angestrengt hat, gilt nicht der Umkehrschluss, dass jeder, der sich anstrengt, auch Erfolg haben wird. Die, die es in unserer Gesellschaft “nicht geschafft” haben, werden aber oft abgekanzelt als diejenigen, die nicht resilient genug sind oder deren Wille einfach nicht groß genug war.” (S. 58f)
  • “Und sicher, â€œEigenverantwortung” klingt immer gut, und am allerbesten, wenn man alle notwendigen Startbedingungen hat. â€œEigenverantwortung” ist aber auch zu einem politischen Kampfbegriff geworden, um wachsende Ungleichheit dem Einzelnen in die Schuhe zu schieben. Je mehr sozialer Abstieg mit persönlichem Versagen begrĂŒndet wird, desto grĂ¶ĂŸer wird die Angst vor der Not und damit der Zwang zur eigenen Opferbereitschaft.” (S. 59)

Coaching — Der Abgrund blickt zurĂŒck

  • “Fast alles, was momentan falsch lĂ€uft mit der Welt, zeigt sich recht eindrucksvoll am “Coaching”.” (S. 65)

Coaching fĂŒr Frauen vs. Coaching fĂŒr MĂ€nner

  • “Coaching fĂŒr Frauen bezieht sich meist viel ganzheitlicher auf die gesamte LebensfĂŒhrung und den Nahbereich. Es werden eher Harmonie und SelbstfĂŒrsorge thematisiert, um Balance zu finden und dem Alltagsstress zu entkommen. Man dehnt sich, cremt sich, pflegt sich alles ist sehr gefĂŒhlsbetont. Hingegen ist Coaching fĂŒr MĂ€nner eher auf Aggression und Kampf ausgelegt, hier wird mit archaischen Themen gearbeitet.” (S. 68)
  • “Es gibt immer was zu tun”, so der Slogan eines großen Baumarkts, ist die Leitidee des mĂ€nnlichen Coachings, so wie “Weil ich es mir wert bin” fĂŒr Frauen.” (S. 71)

Der Abgrund blickt zurĂŒck — IrrtĂŒmer der Introspektion

  • Flourishing: “Dieses Modell der Selbstverbesserung, wahlweise durch Coaching oder Meditationsapps, fußt allerdings auf einer großen unausgesprochenen Annahme, man mĂŒsse nur in seine Seele hineinhorchen, hineinfĂŒhlen und hineinschauen, um herauszufinden, wer man ist, wo es mangelt und wie an sich verbessern kann. FĂŒr die perfekte Optimierung mĂŒssen Sie also zwei Dinge kennen: den Ist-Zustand und den Soll-Zustand. Man muss wissen, was man wirklich will, um auf ein Ziel hinzuarbeiten. Und man muss sich selbst gut kennen, damit man weiß, wo die StĂ€rken und vor allem die SchwĂ€chen liegen. Dabei gibt es nur ein Problem: Wir wissen nicht, was uns antreibt (das Problem der Motivation), und wir wissen nicht, wer wir sind (das Problem der Selbsterkenntnis).” (S. 73f)
  • “Die Innenschau, die Introspektion, schafft gerade keine magischen Zugang zum eigenen Charakter. Wir sind sogar meistens richtig schlecht darin, uns selbst zu verstehen.” (S. 74)
    • Das wĂ€re ein Argument dafĂŒr, warum du einen Facilitator (GrĂŒndungsberater) brauchst, um durch das U zu schreiten. Vorausgesetzt natĂŒrlich, der Facilitator sieht besser (oder hilft dir dabei, besser zu sehen), wer du wirklich bist und was dich antreibt.
  • “Und ĂŒberhaupt: Was ist, wenn wir in uns hineinschauen, aber gar nichts sehen? Oder wenn wir das Falsche sehen?” (S. 76)

Das Negative ist politisch

  • “Die Pessimisten haben eine negative Sicht auf die Dinge. Die hören wir nicht so gerne, darum provozieren sie oft unsere Abwehrhaltung, auch darum, weil wir fĂ€lschlicherweise annehmen, ihre negative Einstellung werde auch negative Folgen haben. Dabei ist oft das Gegenteil der Fall. Negative Erlebnisse und Einstellungen gegenĂŒber der Welt bringen uns weiter. “Sei nicht pessimistisch” ist ein bisschen so, wie wenn man Kindern sagt: “Streitet euch nicht!”, obwohl sie durch Streit ĂŒberhaupt erst lernen, ihre Meinung zu bilden und mit Konflikten umzugehen. Negatives ist ein Motor. Und zwar nicht nur fĂŒr den Einzelnen, sondern auch fĂŒr ganze soziale Bewegungen.” (S. 144f)
  • “Die Ideologie des Positiven macht uns blind fĂŒr die Macht der UmstĂ€nde. Die lahme Floskel “Du kannst alles schaffen, wenn du es nur genug willst” ĂŒberschĂ€tzt den Einfluss des Einzelnen und unterschlĂ€gt dabei das Politische. In der neoliberalen Weltsicht begreifen wir alles individuell. Arbeit wird zu einer Frage der Unternehmerschaft, Bildung zu einer Frage des Talents und Gesundheit zu einer Frage des Lebensstils. Unter dem Deckmantel des positiven Denkens werden Menschen mit ihrem Schicksal nicht nur alleingelassen, man hört ihnen auch gar nicht mehr zu.” (S. 167)

Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens

  • Antonio Gramsci: “Man muss nĂŒchterne, geduldige Menschen schaffen, die nicht verzweifeln angesichts er schlimmsten Schrecken und sich nicht an jeder Dummheit begeistern. Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens.” (S. 171)
    • Das klingt wie eine Beschreibung eines resilienten Lifestyle Entrepreneurs.
  • “[Gramsci] schrieb ĂŒbrigens, Optimismus sei oft nichts weiter als eine Verteidigung der eigenen Faulheit und Verantwortungslosigkeit. Sein Antrieb war darum ein Optimismus des Willens, aber nicht des Verstandes: keine SelbsttĂ€uschung, kein GlĂŒcksstreben, sondern ein nĂŒchterner Pragmatismus mit dem Willen, die existierende RealitĂ€t zu verĂ€ndern.” (S. 172)
    • Das sollte auch der Anspruch an meine GrĂŒndungsberatung sein.

Seitlich dran Vorbeigehen

  • “Was den heutigen Terror des Positiven betrifft, halte ich es wie der Schriftsteller Max Goldt mit WeihnachtsmĂ€rkten: Ich gehe “kĂŒhl lĂ€chelnd, gefĂŒhrt von ruhigem, friedlichem Desinteresse, seitlich an ihnen vorbei — und dank der guten baupolizeilichen Bestimmungen in Deutschland ist es ja möglich, seitlich an so ziemlich allem, was hĂ€sslich ist, vorbeizugehen.” Der Zauber des Seitlich-dran-Vorbeigehens ist eine ganz besonderen Kulturtechnik, die man sehr gut auf die GlĂŒcksobsession anwenden kann.” (S. 173)
  • Quelle: Max Goldt (2006): Vom Zauber des seitlich dran Vorbeigehens, S. 33f.

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