Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil (2011) 📙

A

Meine Highlights

Alzheimer ist eine Krankheit, die, wie jeder bedeutende Gegenstand, auch Aussagen über anderes als nur sich selbst macht. Menschliche Eigenschaften und gesellschaftliche Befindlichkeiten spiegeln sich in dieser Krankheit wie in einem Vergrößerungsglas. Für uns alle ist die Welt verwirrend, und wenn man es nüchtern betrachtet, besteht der Unterschied zwischen einem Gesunden und einem Kranken vor allem im Ausmaß der Fähigkeit, das Verwirrende an der Oberfläche zu kaschieren. Darunter tobt das Chaos. Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf nur eine Fiktion des Verstandes. Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verloren gegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. (S. 57f)

Das interessiert mich alles bei weitem nicht so sehr wie dich. (S. 47)

Wir Geschwister saßen jetzt wieder alle im selben Boot, wenn auch naturgemäß jeder an einer anderen Stelle. (S. 64)

Immer wieder bringen wir unser Leben in eine Form, immer wieder zerbricht das Leben die Form. (S. 66)

Was der Verstand beim Eingehen der Ehe zu wenig leistet, muss er während der Ehe gewöhnlich mit Wucherzinsen nachzahlen. (S. 80)

Charakter ist die härtere Währung als guter Wille. (S. 80)

Ein guter Stolperer fällt nicht. (S. 101)

Irgendwann wird der Vater den Atemzug tun, auf den kein weiterer mehr folgt. Das macht mich wütend, der ganze Aufwand – und wofür das alles? Dann wieder denke ich, dass etwas dran ist an dem, was Julien Green achtzigjährig in sein Tagebuch geschrieben hat: dass er kein Problem damit habe, Fähigkeiten zu verlieren und sterben zu müssen. Gott nehme den Schwamm und lösche, was auf der Tafel geschrieben stehe, wieder aus, um seinen eigenen Namen draufzuschreiben. Im Gegensatz zu mir ist mein Vater sehr gläubig. Doch in einem weltlichen Sinn gefällt auch mir, was Julien Green geschrieben hat von diesem Anderen, der seinen Namen auf diese Tafel schreibt. Orte, die wir nutzen, werden von anderen genutzt werden. Straßen, auf denen wir fahren, werden von anderen befahren werden. Der Platz, auf den der Vater sein Haus gestellt hat, wird von anderen Menschen bewohnt werden. Jemand wird die Geschichte, die ich erzähle, weitererzählen. So absurd und traurig dieses Arrangement ist, so richtig kommt es mir vor. (S. 181)


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