Michael Mary: Das Leben lĂ€sst fragen, wo du bleibst (2005) 📙

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Meine Notizen

Die drei zentralen Thesen dieses Buches (S. 7):

  1. Wollen Sie etwas verÀndern? Dann brauchen Sie ein Problem!
  2. Wollen Sie etwas Grundlegendes verÀndern? Dann brauchen Sie eine Krise!
  3. Wollen Sie in Ihrem Leben vorankommen? Dann sind Sie auf das Scheitern angewiesen!

Die Chancen des BewĂ€ltigenmĂŒssens

  • “Das Leben erneuert sich nicht durch gute Absicht und kluge Voraussicht, sondern es bedarf dazu der BewĂ€ltigung des Scheiterns. Ohne diese Notlage, die zur VerĂ€nderung zwingt, wĂŒrde jedes Leben seine Entwicklung einstellen und recht bald sein Ende finden. So erweist sich das Scheitern als eigentliche Bedingung des Lebens; das erst in der BewĂ€ltigung ebendieses Scheiterns seinen Fortgang findet.” (S. 11)

Ein langweiliges vs. ein spannendes Leben:

“Stellen Sie sich vor, Sie mĂŒssten am Ende Ihres Lebens eine Biographie schreiben. Wodurch wĂŒrde dieses Buch spannend, fesselnd, aufregend? Womit könnten Sie Begeisterung beim Leser hervorrufen und seine Aufmerksamkeit fesseln? Indem Sie langweilige Erfolgsgeschichten abspulen? Nein, sondern indem Sie ĂŒber grandioses Scheitern und erstaunliche BewĂ€ltigungen berichten. Alle großen Romane leben von dieser Spannung, und weil diese Romane vom Leben erzĂ€hlen, lebt auch das Leben selbst von dieser Spannung. Wem es gelingt, dem Scheitern nicht nur verunsichert und Ă€ngstlich, sondern auch mit Neugier zu begegnen, der spĂŒrt den Kitzel des Lebendigen. Wer das Scheitern akzeptiert und es bewĂ€ltigt, mag eine Zufriedenheit empfinden, wie nur ein vollstĂ€ndig gelebtes Leben sie hervorbringt. So mag es denn kommen, das Scheitern
 wir können gespannt auf seine BewĂ€ltigung sein.” (S. 13)

Das Scheitern ist garantiert

  • “Deshalb, weil man die Entwicklungen und VerĂ€nderungen des Lebens nicht vorhersehen kann und weil man sich nur auf das Naheliegende, das schon Sichtbare, FĂŒhlbare und Greifbare einzustellen vermag, ist das Scheitern unvermeidlich.” (S. 25)
  • MM sagt, das Leben eilt uns voraus. Wir mĂŒssen uns laufend auf neue Gegebenheiten einstellen und alte Überzeugungen, Erwartungen und IdentitĂ€ten aufgeben. Das ist Scheitern, wie er es versteht.

Gegen den grassierenden Machbarkeitsmythos

  • “LandlĂ€ufig herrscht [..] die Meinung, das Leben wĂŒrde sich aus Visionen und PlĂ€nen, guten Ideen und gewollter, vorausschauender VerĂ€nderung entwickeln. Diese Vorstellung wird durch den grassierenden Machbarkeitsmythos gestĂŒtzt. Dieser fundamentale Irrtum speist sich aus der Hoffnung, man könne sich das Scheitern ersparen, indem man “richtige” Strategien entwirft und sich “rechtzeitig” auf Entwicklungen einstellt. Doch diese Hoffnung trĂŒgt. Die richtige Strategie ist nicht planbar, die richtige Reaktion nicht im Voraus bestimmbar. Passende Strategien und Reaktionen ergeben sich erst aus dem Versuch, das Scheitern zu bewĂ€ltigen.” (S. 26)
  • Das ist auch die PrĂ€misse von Entrepreneurship — und damit auch der NĂ€hrboden, auf dem GrĂŒndungsberatung wĂ€chst.
  • Die Alternative: Scheitern als unvermeidlich akzeptieren. Immer wieder scheitern und die Chancen des BewĂ€ltigenmĂŒssens nĂŒtzen — als Unternehmer.
  • “Auch wenn wir uns an diesen Glauben der Machbarkeit klammern, auch wenn wir so leben mĂŒssen, als ob wir die Zukunft erkennen könnten — tatsĂ€chlich ist es unmöglich, den EventualitĂ€ten des Lebens vorzubeugen und das alltĂ€gliche Scheitern zu verhindern. Wer sich etwas Derartiges vornimmt, der versucht, das Nichtwissen in seinem winzigen Bewusstsein aufzulösen. Ebenso könnte er versuchen, einen Ozean auszutrinken.” (S. 57)
  • vgl. Gott spricht zu Hiob: “Mit mir willst du streiten? Mir willst du VorwĂŒrfe machen? Wo warst du denn, als ich die Erde schuf? Hast du bestimmt, wie groß das Weltall sein soll? Hast du jemals befehlen können, dass es Tag wird? Warst du schon auf dem Grund des Meeres oder in der Totenwelt? Wer still den Durst des ausgedörrten Bodens, damit grĂŒnes Gras aus ihm wĂ€chst? Gabst du dem Pferd seine Schnelligkeit? Hat bei dir der Falke das Fliegen gelernt?” — Mit einem Wort: Du weißt gar nichts!
  • Und dennoch: Wir mĂŒssen so leben, als hĂ€tten wir Einfluss und Kontrolle. Unsere westliche Gesellschaft ist durchdrungen vom Machbarkeitsmythos. Wir können uns diesem Mythos nicht entziehen. Und: Wir wollen uns ihm auch gar nicht entziehen. Es ist eine schöne Illusion — aber eine Illusion nonetheless. Besser wĂ€re, wenn wir das tĂ€gliche Scheitern zumindest als Gleichzeitigkeit mit-denken wĂŒrden.

VerÀnderungen im individuellen Lebensbereich

EnttÀuschte Erwartungen

  • “Der Kern allen Scheiterns besteht darin, dass selbst entworfene Annahmen und Voraussagen aufgrund von UmweltverĂ€nderungen nicht erfĂŒllt werden. Das ist sowohl der Fall, wenn etwas Unerwartetes geschieht, als auch dann, wenn etwas Erwartetes ausbleibt.” (S. 65)

Wer man ist, der will man bleiben

  • “Erst IdentitĂ€t vermittelt Handlungsanweisung und Handlungssicherheit. Um etwas tun zu können, muss man eine Vorstellung davon haben, wer man ist.” (S. 69)

IdentitÀt ist unvollstÀndig

  • Unser Selbstbild ist immer unvollstĂ€ndig. “Ich bin
” — das können wir niemals abschließend erfassen. Ergo: Wir mĂŒssen unsere IdentitĂ€t stĂ€ndig anpassen. Unsere (vorlĂ€ufige) IdentitĂ€t muss laufend scheitern, weil das Leben voranschreitet.
  • “Um die Vorstellung der IdentitĂ€t durchzuhalten, lĂ€sst die Selbstbeobachtung also vieles weg und hĂ€lt nur weniges fest; und auf diese Weise entsteht die Illusion, etwas Konstantes, Festes und VerlĂ€ssliches zu sein, das sich mit den Worten “Ich bin” beschreiben lĂ€sst.” (S. 70)
  • “IdentitĂ€t ist somit das Ergebnis erheblicher KomplexitĂ€tsreduzierung. Die Psyche ist weitaus komplexer, als sie in ihrer Selbstbeschreibung erscheint. Wie immer hat KomplexitĂ€tsreduzierung auch hier den Effekt, den Aufbau eines komplexen Systems, in diesem Fall eines stabilen Ich, zu ermöglichen. Das stabile Ich wird erst durch die Konzentration auf weniges möglich. MĂŒsste der Mensch alles berĂŒcksichtigen, was er an sich selbst wahrnimmt, könnte er keine eindeutige Vorstellung davon entwickeln, wer er ist. Er könnte keinen Eindruck psychischer Einheit gewinnen, sondern wĂŒrde mit seinen Wahrnehmungen zerfließen.” (S. 70)
  • “Was letztlich scheitert, ist die Absicht, zu bleiben, wer man zu sein glaubt.” (S. 74)

Sinnsuche aus Notwendigkeit

  • “Der ganze Sinn einer Störung besteht darin, zu entdecken, wie es weitergeht.” (S. 89)
  • Das Ziel ist also das Weitergehen. Das Scheitern zwingt zu einer Neuausrichtung und eröffnet damit die Chance, den Weg zu Ă€ndern und dadurch weiterzukommen.

Einen anderen Namen annehmen

  • “Die BewĂ€ltigung von Störungen und Krisen geschieht nĂ€mlich nicht, wie die meisten Menschen glauben, indem man wieder auf die Beine kommt. Sie geschieht nicht, indem man der angegriffenen IdentitĂ€t zur StĂ€rkung und zur Wiederauferstehung verhilft und wieder ganz “der Alte” wird. BewĂ€ltigung geschieht, indem man einen anderen Namen annimmt.” (S. 97)
  • “Ich bin
” Ă€ndert sich; z.B. von “Ich bin harmoniebedĂŒrftig” zu “Ich bin jemand, der fĂŒr sich selbst eintritt”.

đŸ”„Â WAS vs. WER — Eine spannende Überlegung auf S. 97ff in Zusammenhang mit der Theory U:

  • Die BewĂ€ltigung von Störungen geschieht also einzig dadurch, dass man seine IdentitĂ€t Ă€ndert (einen anderen Namen annimmt).
  • In Krisen fragen viele Menschen: Was soll ich tun? Sie stellen diese Frage Experten oder Freunden.
  • Diese Was-Fragen sind fĂŒr die BewĂ€ltigung von Krisen aber völlig ungeeignet, weil sie die Situation nicht auflösen, weil sie sich an die alte IdentitĂ€t richten. Diese Was-Fragen werden von Menschen gestellt, die ein Problem haben und es loswerden möchten, also von Menschen, die ihre alte IdentitĂ€t bewahren möchten.
  • Und, spannender zusĂ€tzlicher Aspekt: “Was-Fragen laufen meist ins Leere, aus dem einfachen Grund, weil niemand da ist, de die darauf folgenden RatschlĂ€ge befolgen und das Vorgeschlagene tun könnte! Man kann leicht herausfinden, was zu tun wĂ€re, es ist aber niemand da, der so etwas tun könnte.” (S. 98)
    • Beispiel Raucher: Man kann einem Raucher raten “Hör auf zu rauchen”. Aber dabei spricht man zur IdentitĂ€t “Ich bin ein Raucher”. Und die wird nicht aufhören zu rauchen, weil sie ja ein “Raucher” ist. Nur ein “Nichtraucher” kann nicht rauchen. Um den Rat befolgen zu können, muss man also zuerst den “Raucher” in einen “Nichtraucher” verwandeln.
    • Oder, im Sinn der Theory U: Man muss zuerst durch das U durch, um die VerĂ€nderung am Ende dann echt “verkörpern” zu können.
  • Wer statt Was: “Die zur BewĂ€ltigung schwieriger Situationen notwendigen Antworten liefern daher nicht Was-, sondern Wer-Fragen.” (S. 98)
    • Wer werde ich im Laufe dieser Entwicklungen?
    • In wen verwandelt mich das Ergebnis?
    • Wem passiert das?
  • “Nicht der, der Ich-vor-der-Krise-war, sondern der, In-den-mich-die-Krise-verwandelt, besitzt die FĂ€higkeit, das Leben weiterzufĂŒhren.” (S. 99)

Worauf es im Leben ankommt

  • “Das Beispiel zeigt es, und ich habe es im Laufe meiner BeratungstĂ€tigkeit immer wieder beobachtet. WĂ€hrend des wie selbstverstĂ€ndlich hingenommenen Lebens konzentrieren sich die meisten Menschen auf materielle Ziele, wollen etwas werden, erreichen, haben. RĂŒckt der Tod dann in greifbare NĂ€he, fĂ€llt es ihnen erstaunlich leicht, sich von ihren GĂŒtern zu trennen. Dann spielen allein die Beziehungen zu anderen Menschen und zur Natur eine Rolle. Dann geht es einzig um die Frage, ob man geliebt hat — die Menschen, das Leben, die Natur — und ob man geliebt wurde.” (S. 149)

VerÀnderungen im Bereich der Partnerschaft

đŸ”„ Beziehung = Kommunikation

  • “Wenn Kommunikation auf diese Weise hin und her und hin und her fließt, entsteht eine Beziehung. Die Beziehung ist die Kommunikation.” (S. 154)
  • Kommunikation fĂŒhrt zu Beziehung. Beziehung entsteht automatisch, wenn ich kommuniziere.
  • Auch auf Social Media: Es wird automatisch social, wenn ich kommuniziere. Es entstehen vielleicht keine tiefen Beziehungen, es entstehen vielleicht keine dauerhaften Beziehungen, aber es entstehen Beziehungen, die man vertiefen und verlĂ€ngern kann.
  • Und: Ohne Kommunikation stirbt jede Beziehung. Bzw. ohne Kommunikation kommt sicher keine Beziehung zustande.

Eine Beziehung erzeugt sich selbst und ist eigenstÀndig:

  • “Man könnte sagen, die Beziehung entwickle sich im Grund von selbst. Im Laufe einer Kommunikation kann es passieren, dass zwei nach kurzer Zeit feststellen, dass nichts Erhaltenswertes — also keine nennenswerte Beziehung — zwischen ihnen entsteht. Ebenso kann das Gegenteil der Fall sein: Es entsteht etwas, das eine außerordentliche Anziehung auf die beiden ausĂŒbt, eben eine Beziehung. Die Konsequenz lautet: Eine Beziehung erzeugt sich selbst, sie entsteht erst mit dem unvorhersehbaren Kommunikationsprozess.” (S. 156)
  • “Etwas zugespitzt könnte man sagen, der Partner selbst spiele eigentlich keine große Rolle, sondern allein die Beziehung zu ihm. Den Partner kennt man ohnehin nicht, obwohl Partner in der Regel davon ausgehen, sie wĂŒrden sich kennen. Das ist eine Illusion. In Wahrheit kennen Partner lediglich die eingespielten Strukturen der Kommunikation, die sie miteinander pflegen und gehen davon aus, dass alles so weiterlĂ€uft wie gewohnt. Wenn sich diese Kommunikation unter bestimmten UmstĂ€nden aber Ă€ndert, lernt man den Partner anders kennen und erkennt ihn womöglich nicht wieder.” (S. 158f)

Scheitern von Beziehungen

  • “Das Scheitern von Beziehungen — damit ist gemeint, dass sie einen unerwarteten und unerwĂŒnschten Verlauf nehmen — ist aufgrund stĂ€ndiger UmweltverĂ€nderungen ebenso garantiert und ebenso unvermeidlich wie das individuelle Scheitern, und es ist ebenso nötig, damit sich Beziehungen and geĂ€nderte Umweltbedingungen anpassen.” (S. 160f)
  • “Beziehungspartner stehen permanent vor der Aufgabe, Beziehungsstörungen zu bewĂ€ltigen, weil stĂ€ndig etwas Unerwartetes kleinen oder großen Ausmaßes geschieht. Der GeschĂ€ftspartner zögert mit dem Vertragsabschluss, der Freund meldet sich nicht oder ist anderer Meinung, der Liebespartner hat schlechte Laune oder geht fremd, und all das wirkt sich auf die Beziehung aus.” (S. 161)

PaaridentitĂ€t = “Wir sind
”

  • “Es wundert nicht, dass die “Vorstellung Beziehung”, die PaaridentitĂ€t, vom gleichen Schicksal ereilt wird, von dem auch individuelle IdentitĂ€t betroffen ist. Sie wird frĂŒher oder spĂ€ter vom Leben ĂŒberholt. Die Umwelt greift störend in die Kommunikation ein und verĂ€ndert den Zustand der Beziehung.” (S. 169)
  • “Eine Beziehungsstörung zu erleben bedeutet: Etwas ist geschehen, das nicht zu den gemeinsamen Erwartungen passt. Die Beziehung ist nicht mehr so, wie die Partner sie sich vorstellen. Irgendetwas hat sich verĂ€ndert, aber die PaaridentitĂ€t hĂ€lt mit dieser VerĂ€nderung nicht Schritt. Die Partner sind mit ihrer Vorstellung gescheitert, das Leben ist ihnen vorausgeeilt.” (S. 169f)
  • “Partner können dieses Scheitern nicht verhindern, weder indem sie schlaue Tipps beherzigen noch indem sie ausgefeilte Beziehungsstrategien verfolgen. Dieses Scheitern tritt schlichtweg auf, wenn gemeinsame Erwartungen der Partner enttĂ€uscht werden.” (S. 170)
  • Aber: Die Beziehung bleibt aufrecht, wenn die Kommunikation erhalten bleibt. Insofern haben Ratgeber-BĂŒcher wie Gary Chapman: Die fĂŒnf Sprachen der Liebe einen Sinn.

VerÀnderungen im gesellschaftlichen Bereich

Es gibt keinerlei Steuerung, weil keinerlei Steuerung möglich ist:

  • “Es gibt keinen Plan zur Gestaltung der Gesellschaft, nicht einmal eine vorgegebene Richtung, sondern nur Ausdifferenzierung aufgrund gegenseitiger EinflĂŒsse der verschiedenen Subsysteme.” (S. 209)
  • “Die Vorstellung, Politik könne die Zukunft gestalten, trifft daher nicht zu. Politik dient lediglich dem Versuch, Entwicklungen zu beeinflussen, die stattfinden oder auf jene zu reagieren, die bereits stattgefunden haben.” (S. 209)
  • Die Vorstellung, dass Politiker großen Einfluss hĂ€tten, dass Entwicklungen vorhersehbar wĂ€ren oder die zahlreichen Subsysteme steuerbar wĂ€ren, “ist schlicht absurd”.

Die Erregung des Lebens

đŸ”„Â â€œIch lebe nicht radikal genug. Ich lebe, als erwarte mich ewiges Dasein und nicht völlige Vernichtung. Das heißt, ich lebe in der Knechtschaft meiner Zukunft und nicht in der unendlichen Freiheit meiner Sterblichkeit.” (Imre KertĂ©sz; S. 250)



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