Sahra Wagenknecht versteht es, ihren Finger in Wunden zu legen. Das kann man anerkennen und muss trotzdem nicht immer ihrer Meinung sein.
1. Moralisten ohne MitgefĂĽhl
Das gute GefĂĽhl
- “[…] zumindest fĂĽr einige [dient] das Engagement gar nicht mehr dem Ziel, ihre Anliegen auch gesellschaftlich umzusetzen. Statt um Veränderung geht es vor allem um Selbstbestätigung, auch die Demo-Teilnahme wird so zu einem Akt der Selbstverwirklichung: Man fĂĽhlt sich einfach gut dabei, wenn man mit Gleichgesinnten fĂĽr das Guteauf die StraĂźe geht.” (S. 37)
- “Oft sind die Forderungen, für die man zu streiten vorgibt, ohnehin so überzogen, dass sie nicht den Hauch einer Realisierungschance haben.” (S. 37)
- Gilt das auch für mich und das Bedingungslose Grundeinkommen? Wie ernst meine ich es wirklich damit, wenn ich “dafür eintrete”?
2. Große Erzählungen
Hinter Erzählungen stehen immer Interessen
- “[…] hinter Erzählungen [stehen] immer Interessen. Viele groĂźe Erzählungen liefen darauf hinaus, Vorrechte und leistungslose BezĂĽge privilegierter Gesellschaftsgruppen so zu begrĂĽnden, als wĂĽrden sie dem Interesse allerentsprechen.” (S. 54)
- “[…] eine einflussreiche Erzählung unserer Zeit [macht] die Erben groĂźer Kapitalvermögen, auch wenn sie nie ein Unternehmen von innen gesehen haben, zu Arbeitgebern und Garanten unserer Arbeitsplätze und [leitet] ihre millionenschweren Kapitaleinkommen aus diesem “Verdienst” her.” (S. 54)
3. Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter
Ein planbares Leben ist ein gutes Leben
- “Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen für Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens, das möglichst bis zur Rente durch nichts aus der Bahn geworfen werden soll, gehören zur elementaren Bedingung für das, was viele Arbeiter unter einem guten Leben verstehen. Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener führen können.” (S. 62)
Kapitaleinkommen ist keine Leistung
- “In allen westlichen Ländern verschob sich das Verhältnis von Kapital- und Arbeitseinkommen deutlich zum Vorteil der Kapitaleinkommen — anstelle der Löhne und Gehälter stiegen also Dividenden, Ausschüttungen aus GmbH-Anteilen und Zinseinnahmen, im 21. Jahrhundert vor allem die ersten beiden.” (S. 68)
- “Ein zunehmendes Gewicht der Kapitaleinkommen bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft sich immer stärker vom Anspruch einer Leistungsgesellschaft entfernt, denn Kapitaleinkommen sind leistungslose Einkommen, die den Begünstigten aufgrund ihres Vermögens zufließen.” (S. 69)
4. Die neue akademische Mittelschicht
Gut bezahlte Dienstleistungsberufe fĂĽr Hochschulabsolventen
- “Die Dienstleistungsgesellschaft fĂĽhrt nicht nur zu sozialen Abstiegen. Sie eröffnet auch Raum fĂĽr beruflichen Aufstieg, Prestige und Wohlstand. Denn im Zuge der Veränderungen entstand ebenfalls […] in bisher nicht da gewesenem Umfang neue gut bezahlte Dienstleistungsberufe fĂĽr Hochschulabsolventen.” (S. 79)
- “Zu den groĂźen Wachstumsbranchen der letzten Jahre zählen […] unternehmensbezogene Dienstleistungen im Bereich Marketing, Werbung, Beratung und Anwaltstätigkeiten.” (S. 80)
- “Die neue akademische Mittelschicht, die mit all diesen neuen, gut bezahlten Dienstleistungsberufen entstanden ist, unterscheidet sich durch ihre Ausbildung, ihr Tätigkeitsprofil, ihren Wohnort, aber auch in Habitus, Werten und Lebenseinstellung gravierend sowohl vom traditionellen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Milieu als auch von der Arbeiterschaft.” (S. 80)
Zufall und GlĂĽck statt Kollektivvertrag
- “Hier, in der so genannten Wissensökonomie, gibt es keine Gewerkschaften, keine Entgelttarife, keine Normen der Leistungsbeurteilung, keine Regeln für den beruflichen Aufstieg. Verträge werden individuell ausgehandelt, vieles hängt von Glück und Zufall ab. Die Bewertungsmaßstäbe sind oft willkürlich und die Einkommensspanne zwischen gut und schlecht bezahlten Anwälten, Journalisten oder Kreativgenies ist riesig.” (S. 82)
Das neue Bildungsprivileg
- “Das neue Bildungsprivileg besteht darin, dass heute in den gut bezahlten akademischen Dienstleistungsberufen Fähigkeiten und Qualifikationen verlangt werden, die man auf dem staatlichen Bildungsweg schlicht nicht erwerben kann.” (S. 88)
5. Der Linksliberalismus — Maggy Thatchers größter Erfolg
Rechte und Pflichten
- “Die alte Sozialstaatsidee beruhte auf dem grundsätzlichen Gedanken der Gemeinschaft und der Gleichheit. Alle Mitglieder hatten Rechte und Pflichten, und ihre Rechte ergaben sich daraus, dass sie ihre Pflichten wahrnahmen, soweit sie dazu in der Lage waren.” (S. 127)
- “Die linksliberale Staatsidee ist auch deshalb wenig populär, weil sie mit diesen Werten bricht. Für sie gibt es nämlich nur noch Rechte und keine Pflichten mehr. Jeder hat danach das gleiche Recht auf Mindestsicherung, egal ob er jemals in die Sozialsysteme eingezahlt hat und auch unabhängig davon, ob er das überhaupt möchte.” (S. 128)
Jeder Mensch ist mein Bruder?!
- “Wer angibt, in jedem Menschen einen Bruder zu sehen, kaschiert damit oft genug nur, dass ihm in Wirklichkeit niemandes Schicksal wirklich nahegeht.” (S. 130)
- “In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass sich das großzügige Angebot der linksliberalen Wohlstandsbürger, mit allen zu teilen, natürlich nie auf ihr privates Vermögen bezieht, sondern immer nur auf das “Vermögen der kleinen Leute”, wie Helmut Schmidt den Sozialstaat einmal zu Recht genannt hat. Es ist also das Vermögen andererund nicht etwa das eigene, das hier mit der Geste mildtätiger Opferbereitschaft zur globalen Umverteilung freigegeben wird.” (S. 131)
6. Zuwanderung — wer gewinnt, wer verliert?
Warum fĂĽr Akademiker Zuwanderung positiv ist
- “Deshalb beeinflusst Migration auch nicht die Gehälter der Sterneköche, genauso wenig wie die der Journalisten, Werbegrafiker, Oberstudienräte oder anderer Berufsgruppen der sogenannten Wissensökonomie. Im Gegenteil, für sie ist die Auswirkung eher positiv, weil viele Dienstleistungen billiger werden: von der Putzhilfe über den Zusteller, die die online bestellten Päckchen in die schicke Altbauwohnung schleppt, bis zur Kellnerin, die in der Sushi-Bar die Spezialitäten serviert. Für die akademisch gebildete Mittelschicht steigt also durch mehr Migration die Kaufkraft der eigenen Einkommen.” (S. 163f)
- “Das mag einer der GrĂĽnde sein, weshalb viele aus diesem Milieu Zuwanderung so energisch begrĂĽĂźen. Ein akzeptabler Grund, sie zu fördern, ist es allerdings nicht […].” (S. 164)
8. Warum wir Gemeinsinn und Miteinander brauchen
Faire Kooperation
- “Faire Kooperation heißt, sich auch da an die Regeln zu halten, wo der andere es nicht oder bestenfalls im Nachhinein kontrollieren kann. Faire Kooperation basiert auf dem Grundvertrauen, dass auch die anderen, mit denen wir zu tun haben, nicht ständig auf Gelegenheiten lauern, uns übers Ohr zu hauen.” (S. 209)
- Vgl. Corona-Hilfen des Staates: Wer nĂĽtzt sie unberechtigt aus, wer nicht?
Adam Smith, richtig verstanden
- “Adam Smiths berühmte These, dass freie Märkte das allgemeine Wohl befördern, beruhte also auf der von ihm für selbstverständlich gehaltenen Annahme, dass Menschen sich nicht wie ein egoistisch berechnender Homo oeconomicus, sondern wie Gemeinschaftswesen verhalten, deren Egoismus durch Loyalität zu und Mitempfinden mit anderen gebremst wird.” (S. 213)
Warum wir glauben, dass Menschen arm sind
- “Auch die neoliberale Erzählung vom angeblich mangelnden Arbeitswillen der Leistungsempfänger hat ihren Teil dazu beigetragen, dass heute viel mehr Menschen Faulheit und mangelnde Willenskraft für eine Armutsursache halten als noch in den neunziger Jahren. Aber das bedeutet: Man fühlt sich den Ärmsten nicht mehr nah, sondern fremd.” (S. 216)
- Dabei habe ich heute die Soziallandesrätin von Tirol sagen gehört, dass 70% (!!!) der Sozialhilfeempfänger Sozialhilfe brauchen, obwohl sie eine Job haben (Working Poor).
- “Je mehr Menschen das Gefühl haben, soziale Leistungen kämen überproportional anderen zugute, also Menschen, mit denen sie sich nicht verbunden fühlen und die in ihren Augen kein wirkliches Anrecht auf gesellschaftliche Solidarität haben, desto mehr verliert sozialstaatlicher Ausgleich an Zustimmung.” (S. 217)
10. Demokratie oder Oligarchie: Wie wir die Herrschaft des GroĂźen Geldes beenden
Ein schlanker Staat ist ein teurer Staat
- “Anders, als man intuitiv annehmen würde, ist ein schwacher Staat am Ende noch nicht einmal ein billiger Staat, sondern ein besonders teurer. Denn die mangelnde Finanzierung verschlechtert nicht nur die Qualität der Verwaltungsarbeit. Unterfinanzierte Behörden sind auch darauf angewiesen, Aufgaben, die sie früher selbst erledigt haben, an private Unternehmen auszulagern. Und die lassen sich das gut bezahlen, zumal wenn sie ein schwaches, abhängiges Gegenüber haben. Auch Kompetenz, die die staatlichen Behörden früher selbst hatten, muss jetzt eingekauft werden. Aber privatwirtschaftliche Expertise kostet nicht nur viel Geld, sie ist vor allem nie neutral und interessenfrei.” (S. 258)
- “Hilflose, unterfinanzierte Behörden lassen sich gut ausnehmen.” (S. 259)
- “Dass der deutsche Staat derzeit kaum in der Lage ist, Bahnhöfe, Flughäfen oder Autobahnen zu bauen, ohne dass Kosten und Zeitrahmen völlig aus dem Ruder laufen, hat den gleichen Grund: Schwache Verwaltungen stehen kommerziellen Großanbietern gegenüber, die keine Mühe haben, sie über den Tisch zu ziehen. Teilweise wurde dieses Über-den-Tisch-Ziehen sogar institutionalisiert: Es nennt sich dann Öffentlich-Private Partnerschaft.” (S. 259)
11. Fortschritt statt Fake: Leistungseigentum fĂĽr eine innovative Wirtschaft
Singuläre Güter
- “In den lukrativen Marktsegmenten geht es daher kaum noch um zusätzliche oder verbesserte Gebrauchswerte, sondern vor allem um den besten Marketing-Trick. Es geht darum, hochpreisige Produkte mit einer speziellen Erzählung zu singulären Kulturgütern hochzustilisieren, die der anspruchsvollen Kundschaft das Gefühl geben, selbst etwas ganz Besonderes zu sein. Für singuläre Güter aber gibt es keinen Wettbewerb.” (S. 274)
Unternehmer ≠Kapitalisten
- “Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer gründen Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groß. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen.” (S. 293)
Eliten gegen “Streber” (Leistungsgesellschaft)
- “Die Idee einer leistungsgerechten Verteilung anstelle herkunftsbedingter Privilegien stützt sich daher auf eine lange progressive Tradition. Sowohl die Emanzipationsbewegung des Bürgertums als auch der Arbeiterschaft wurden von diesem Gedanken getragen, bis er in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die große Erzählung der Leistungsgesellschaft mündete. Kritik an “Leistungsfanatismus” und “Strebertum” hingegen kam traditionell von den privilegierten Schichten.” (S. 296f)
- “Leistungsverachtung kann sich eben vor allem leisten, wer aus einer sozialen Schicht stammt, die ihre Nachkommen auch ohne übermäßige eigene Anstrengung absichern kann. Der Aufstieg und die Emanzipation der weniger Begünstigten indessen wird nur dadurch möglich, dass eine Gesellschaft Leistung und Anstrengung belohnt.” (S. 297)
- “Dass auch die linksliberale Linke den Leistungsgedanken verächtlich macht, ist daher nur ein weiterer Indikator dafür, dass sie die Seiten gewechselt hat und mittlerweile eher das gesellschaftliche Oben als das Unten repräsentiert.” (S. 297)
- “Heute ist die Kritik an messbaren Leistungskriterien sowie einer leistungsgerechten Verteilung sicher auch deshalb so meinungsstark, weil sie dem Bemühen der akademischen Mittelschicht entspricht, das eigene soziale Milieu nach unten abzuschotten und den Zugang zu lukrativen Berufen auf die eigenen Nachkommen zu beschränken. Genauso verständlich ist es daher, dass der Leistungsgedanke der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft unvermindert lebendig ist und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in diesen Kreisen nahezu keine Unterstützung genießt.” (S. 297)
12. Eine digitale Zukunft ohne DatenschnĂĽffler
Digitalisierung: Wo ist Europa?
- “Europa findet in der Schlüsselbranche des 21. Jahrhunderts schlicht nicht statt. Natürlich gibt es europäische IT-Unternehmen und mehr oder minder sinnvolle Start-ups. Aber sie programmieren auf den großen US-Plattformen, akzeptieren deren Geschäftsmodell, und die besonders erfolgreichen werden irgendwann von ihnen aufgekauft. Das ist ein riesiges Problem.” (S. 327)
Schluss
Wofür “links” heute steht
- “Früher gehörte es zum linken Selbstverständnis, sich in erster Linie für die weniger Begünstigten einzusetzen, für Menschen ohne hohe Bildungsabschlüsse und ohne ressourcenstarkes familiäres Hinterland. Heute steht das Label links meist für eine Politik, die sich für die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert und die von dieser Schicht gestaltet und getragen wird.” (S. 331)