đź“™ Sahra Wagenknecht: Die Selbstgerechten (2021)

Sahra Wagenknecht versteht es, ihren Finger in Wunden zu legen. Das kann man anerkennen und muss trotzdem nicht immer ihrer Meinung sein.

1. Moralisten ohne MitgefĂĽhl

Das gute GefĂĽhl

  • “[…] zumindest fĂĽr einige [dient] das Engagement gar nicht mehr dem Ziel, ihre Anliegen auch gesellschaftlich umzusetzen. Statt um Veränderung geht es vor allem um Selbstbestätigung, auch die Demo-Teilnahme wird so zu einem Akt der Selbstverwirklichung: Man fĂĽhlt sich einfach gut dabei, wenn man mit Gleichgesinnten fĂĽr das Guteauf die StraĂźe geht.” (S. 37)
  • “Oft sind die Forderungen, fĂĽr die man zu streiten vorgibt, ohnehin so ĂĽberzogen, dass sie nicht den Hauch einer Realisierungschance haben.” (S. 37)
  • Gilt das auch fĂĽr mich und das Bedingungslose Grundeinkommen? Wie ernst meine ich es wirklich damit, wenn ich “dafĂĽr eintrete”?

2. Große Erzählungen

Hinter Erzählungen stehen immer Interessen

  • “[…] hinter Erzählungen [stehen] immer Interessen. Viele groĂźe Erzählungen liefen darauf hinaus, Vorrechte und leistungslose BezĂĽge privilegierter Gesellschaftsgruppen so zu begrĂĽnden, als wĂĽrden sie dem Interesse allerentsprechen.” (S. 54)
  • “[…] eine einflussreiche Erzählung unserer Zeit [macht] die Erben groĂźer Kapitalvermögen, auch wenn sie nie ein Unternehmen von innen gesehen haben, zu Arbeitgebern und Garanten unserer Arbeitsplätze und [leitet] ihre millionenschweren Kapitaleinkommen aus diesem “Verdienst” her.” (S. 54)

3. Solidarität, Triumph und Demütigung: Die Geschichte der Arbeiter

Ein planbares Leben ist ein gutes Leben

  • “Geregelte Arbeitszeiten, ein fester Rahmen fĂĽr Firma, Haus und Familie, die Planbarkeit des eigenen Lebens, das möglichst bis zur Rente durch nichts aus der Bahn geworfen werden soll, gehören zur elementaren Bedingung fĂĽr das, was viele Arbeiter unter einem guten Leben verstehen. Ein Leben, das sie mittlerweile immer seltener fĂĽhren können.” (S. 62)

Kapitaleinkommen ist keine Leistung

  • “In allen westlichen Ländern verschob sich das Verhältnis von Kapital- und Arbeitseinkommen deutlich zum Vorteil der Kapitaleinkommen — anstelle der Löhne und Gehälter stiegen also Dividenden, AusschĂĽttungen aus GmbH-Anteilen und Zinseinnahmen, im 21. Jahrhundert vor allem die ersten beiden.” (S. 68)
  • “Ein zunehmendes Gewicht der Kapitaleinkommen bedeutet aber auch, dass die Gesellschaft sich immer stärker vom Anspruch einer Leistungsgesellschaft entfernt, denn Kapitaleinkommen sind leistungslose Einkommen, die den BegĂĽnstigten aufgrund ihres Vermögens zuflieĂźen.” (S. 69)

4. Die neue akademische Mittelschicht

Gut bezahlte Dienstleistungsberufe fĂĽr Hochschulabsolventen

  • “Die Dienstleistungsgesellschaft fĂĽhrt nicht nur zu sozialen Abstiegen. Sie eröffnet auch Raum fĂĽr beruflichen Aufstieg, Prestige und Wohlstand. Denn im Zuge der Veränderungen entstand ebenfalls […] in bisher nicht da gewesenem Umfang neue gut bezahlte Dienstleistungsberufe fĂĽr Hochschulabsolventen.” (S. 79)
  • “Zu den groĂźen Wachstumsbranchen der letzten Jahre zählen […] unternehmensbezogene Dienstleistungen im Bereich Marketing, Werbung, Beratung und Anwaltstätigkeiten.” (S. 80)
  • “Die neue akademische Mittelschicht, die mit all diesen neuen, gut bezahlten Dienstleistungsberufen entstanden ist, unterscheidet sich durch ihre Ausbildung, ihr Tätigkeitsprofil, ihren Wohnort, aber auch in Habitus, Werten und Lebenseinstellung gravierend sowohl vom traditionellen bĂĽrgerlichen und kleinbĂĽrgerlichen Milieu als auch von der Arbeiterschaft.” (S. 80)

Zufall und GlĂĽck statt Kollektivvertrag

  • “Hier, in der so genannten Wissensökonomie, gibt es keine Gewerkschaften, keine Entgelttarife, keine Normen der Leistungsbeurteilung, keine Regeln fĂĽr den beruflichen Aufstieg. Verträge werden individuell ausgehandelt, vieles hängt von GlĂĽck und Zufall ab. Die BewertungsmaĂźstäbe sind oft willkĂĽrlich und die Einkommensspanne zwischen gut und schlecht bezahlten Anwälten, Journalisten oder Kreativgenies ist riesig.” (S. 82)

Das neue Bildungsprivileg

  • “Das neue Bildungsprivileg besteht darin, dass heute in den gut bezahlten akademischen Dienstleistungsberufen Fähigkeiten und Qualifikationen verlangt werden, die man auf dem staatlichen Bildungsweg schlicht nicht erwerben kann.” (S. 88)

5. Der Linksliberalismus — Maggy Thatchers größter Erfolg

Rechte und Pflichten

  • “Die alte Sozialstaatsidee beruhte auf dem grundsätzlichen Gedanken der Gemeinschaft und der Gleichheit. Alle Mitglieder hatten Rechte und Pflichten, und ihre Rechte ergaben sich daraus, dass sie ihre Pflichten wahrnahmen, soweit sie dazu in der Lage waren.” (S. 127)
  • “Die linksliberale Staatsidee ist auch deshalb wenig populär, weil sie mit diesen Werten bricht. FĂĽr sie gibt es nämlich nur noch Rechte und keine Pflichten mehr. Jeder hat danach das gleiche Recht auf Mindestsicherung, egal ob er jemals in die Sozialsysteme eingezahlt hat und auch unabhängig davon, ob er das ĂĽberhaupt möchte.” (S. 128)

Jeder Mensch ist mein Bruder?!

  • “Wer angibt, in jedem Menschen einen Bruder zu sehen, kaschiert damit oft genug nur, dass ihm in Wirklichkeit niemandes Schicksal wirklich nahegeht.” (S. 130)
  • “In diesem Zusammenhang fällt auch auf, dass sich das groĂźzĂĽgige Angebot der linksliberalen WohlstandsbĂĽrger, mit allen zu teilen, natĂĽrlich nie auf ihr privates Vermögen bezieht, sondern immer nur auf das “Vermögen der kleinen Leute”, wie Helmut Schmidt den Sozialstaat einmal zu Recht genannt hat. Es ist also das Vermögen andererund nicht etwa das eigene, das hier mit der Geste mildtätiger Opferbereitschaft zur globalen Umverteilung freigegeben wird.” (S. 131)

6. Zuwanderung — wer gewinnt, wer verliert?

Warum fĂĽr Akademiker Zuwanderung positiv ist

  • “Deshalb beeinflusst Migration auch nicht die Gehälter der Sterneköche, genauso wenig wie die der Journalisten, Werbegrafiker, Oberstudienräte oder anderer Berufsgruppen der sogenannten Wissensökonomie. Im Gegenteil, fĂĽr sie ist die Auswirkung eher positiv, weil viele Dienstleistungen billiger werden: von der Putzhilfe ĂĽber den Zusteller, die die online bestellten Päckchen in die schicke Altbauwohnung schleppt, bis zur Kellnerin, die in der Sushi-Bar die Spezialitäten serviert. FĂĽr die akademisch gebildete Mittelschicht steigt also durch mehr Migration die Kaufkraft der eigenen Einkommen.” (S. 163f)
  • “Das mag einer der GrĂĽnde sein, weshalb viele aus diesem Milieu Zuwanderung so energisch begrĂĽĂźen. Ein akzeptabler Grund, sie zu fördern, ist es allerdings nicht […].” (S. 164)

8. Warum wir Gemeinsinn und Miteinander brauchen

Faire Kooperation

  • “Faire Kooperation heiĂźt, sich auch da an die Regeln zu halten, wo der andere es nicht oder bestenfalls im Nachhinein kontrollieren kann. Faire Kooperation basiert auf dem Grundvertrauen, dass auch die anderen, mit denen wir zu tun haben, nicht ständig auf Gelegenheiten lauern, uns ĂĽbers Ohr zu hauen.” (S. 209)
  • Vgl. Corona-Hilfen des Staates: Wer nĂĽtzt sie unberechtigt aus, wer nicht?

Adam Smith, richtig verstanden

  • “Adam Smiths berĂĽhmte These, dass freie Märkte das allgemeine Wohl befördern, beruhte also auf der von ihm fĂĽr selbstverständlich gehaltenen Annahme, dass Menschen sich nicht wie ein egoistisch berechnender Homo oeconomicus, sondern wie Gemeinschaftswesen verhalten, deren Egoismus durch Loyalität zu und Mitempfinden mit anderen gebremst wird.” (S. 213)

Warum wir glauben, dass Menschen arm sind

  • “Auch die neoliberale Erzählung vom angeblich mangelnden Arbeitswillen der Leistungsempfänger hat ihren Teil dazu beigetragen, dass heute viel mehr Menschen Faulheit und mangelnde Willenskraft fĂĽr eine Armutsursache halten als noch in den neunziger Jahren. Aber das bedeutet: Man fĂĽhlt sich den Ă„rmsten nicht mehr nah, sondern fremd.” (S. 216)
  • Dabei habe ich heute die Soziallandesrätin von Tirol sagen gehört, dass 70% (!!!) der Sozialhilfeempfänger Sozialhilfe brauchen, obwohl sie eine Job haben (Working Poor).
  • “Je mehr Menschen das GefĂĽhl haben, soziale Leistungen kämen ĂĽberproportional anderen zugute, also Menschen, mit denen sie sich nicht verbunden fĂĽhlen und die in ihren Augen kein wirkliches Anrecht auf gesellschaftliche Solidarität haben, desto mehr verliert sozialstaatlicher Ausgleich an Zustimmung.” (S. 217)

10. Demokratie oder Oligarchie: Wie wir die Herrschaft des GroĂźen Geldes beenden

Ein schlanker Staat ist ein teurer Staat

  • “Anders, als man intuitiv annehmen wĂĽrde, ist ein schwacher Staat am Ende noch nicht einmal ein billiger Staat, sondern ein besonders teurer. Denn die mangelnde Finanzierung verschlechtert nicht nur die Qualität der Verwaltungsarbeit. Unterfinanzierte Behörden sind auch darauf angewiesen, Aufgaben, die sie frĂĽher selbst erledigt haben, an private Unternehmen auszulagern. Und die lassen sich das gut bezahlen, zumal wenn sie ein schwaches, abhängiges GegenĂĽber haben. Auch Kompetenz, die die staatlichen Behörden frĂĽher selbst hatten, muss jetzt eingekauft werden. Aber privatwirtschaftliche Expertise kostet nicht nur viel Geld, sie ist vor allem nie neutral und interessenfrei.” (S. 258)
  • “Hilflose, unterfinanzierte Behörden lassen sich gut ausnehmen.” (S. 259)
  • “Dass der deutsche Staat derzeit kaum in der Lage ist, Bahnhöfe, Flughäfen oder Autobahnen zu bauen, ohne dass Kosten und Zeitrahmen völlig aus dem Ruder laufen, hat den gleichen Grund: Schwache Verwaltungen stehen kommerziellen GroĂźanbietern gegenĂĽber, die keine MĂĽhe haben, sie ĂĽber den Tisch zu ziehen. Teilweise wurde dieses Ăśber-den-Tisch-Ziehen sogar institutionalisiert: Es nennt sich dann Ă–ffentlich-Private Partnerschaft.” (S. 259)

11. Fortschritt statt Fake: Leistungseigentum fĂĽr eine innovative Wirtschaft

Singuläre Güter

  • “In den lukrativen Marktsegmenten geht es daher kaum noch um zusätzliche oder verbesserte Gebrauchswerte, sondern vor allem um den besten Marketing-Trick. Es geht darum, hochpreisige Produkte mit einer speziellen Erzählung zu singulären KulturgĂĽtern hochzustilisieren, die der anspruchsvollen Kundschaft das GefĂĽhl geben, selbst etwas ganz Besonderes zu sein. FĂĽr singuläre GĂĽter aber gibt es keinen Wettbewerb.” (S. 274)

Unternehmer ≠ Kapitalisten

  • “Die Motivation echter Unternehmer ist, wie schon Schumpeter wusste, eine andere als die von Kapitalisten. Unternehmer grĂĽnden Unternehmen, arbeiten in ihnen und machen sie groĂź. Kapitalisten investieren Geld und wollen Rendite sehen.” (S. 293)

Eliten gegen “Streber” (Leistungsgesellschaft)

  • “Die Idee einer leistungsgerechten Verteilung anstelle herkunftsbedingter Privilegien stĂĽtzt sich daher auf eine lange progressive Tradition. Sowohl die Emanzipationsbewegung des BĂĽrgertums als auch der Arbeiterschaft wurden von diesem Gedanken getragen, bis er in den fĂĽnfziger Jahren des letzten Jahrhunderts in die groĂźe Erzählung der Leistungsgesellschaft mĂĽndete. Kritik an “Leistungsfanatismus” und “Strebertum” hingegen kam traditionell von den privilegierten Schichten.” (S. 296f)
  • “Leistungsverachtung kann sich eben vor allem leisten, wer aus einer sozialen Schicht stammt, die ihre Nachkommen auch ohne ĂĽbermäßige eigene Anstrengung absichern kann. Der Aufstieg und die Emanzipation der weniger BegĂĽnstigten indessen wird nur dadurch möglich, dass eine Gesellschaft Leistung und Anstrengung belohnt.” (S. 297)
  • “Dass auch die linksliberale Linke den Leistungsgedanken verächtlich macht, ist daher nur ein weiterer Indikator dafĂĽr, dass sie die Seiten gewechselt hat und mittlerweile eher das gesellschaftliche Oben als das Unten repräsentiert.” (S. 297)
  • “Heute ist die Kritik an messbaren Leistungskriterien sowie einer leistungsgerechten Verteilung sicher auch deshalb so meinungsstark, weil sie dem BemĂĽhen der akademischen Mittelschicht entspricht, das eigene soziale Milieu nach unten abzuschotten und den Zugang zu lukrativen Berufen auf die eigenen Nachkommen zu beschränken. Genauso verständlich ist es daher, dass der Leistungsgedanke der klassischen Mittelschicht und der Arbeiterschaft unvermindert lebendig ist und die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens in diesen Kreisen nahezu keine UnterstĂĽtzung genieĂźt.” (S. 297)

12. Eine digitale Zukunft ohne DatenschnĂĽffler

Digitalisierung: Wo ist Europa?

  • “Europa findet in der SchlĂĽsselbranche des 21. Jahrhunderts schlicht nicht statt. NatĂĽrlich gibt es europäische IT-Unternehmen und mehr oder minder sinnvolle Start-ups. Aber sie programmieren auf den groĂźen US-Plattformen, akzeptieren deren Geschäftsmodell, und die besonders erfolgreichen werden irgendwann von ihnen aufgekauft. Das ist ein riesiges Problem.” (S. 327)

Schluss

Wofür “links” heute steht

  • “FrĂĽher gehörte es zum linken Selbstverständnis, sich in erster Linie fĂĽr die weniger BegĂĽnstigten einzusetzen, fĂĽr Menschen ohne hohe BildungsabschlĂĽsse und ohne ressourcenstarkes familiäres Hinterland. Heute steht das Label links meist fĂĽr eine Politik, die sich fĂĽr die Belange der akademischen Mittelschicht engagiert und die von dieser Schicht gestaltet und getragen wird.” (S. 331)